Erschliessungsprojekt «Avantgarde» (2023–2024)
Dokumente aus dem Archiv Ilma Rakusa, © Fotoatelier Schweizerische Nationalbibliothek (NB)
Seit seiner Gründung im Jahr 1991 pflegt das Schweizerische Literaturarchiv (SLA) verschiedene Sammlungsschwerpunkte, die die Schweizer Literatur in ihren spannendsten Facetten greifbar machen. Einer der wichtigsten darunter betrifft Archive und Nachlässe von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, deren Schaffen der «Avantgarde» zuzurechnen ist. Diese Bestände geben Einblick in eine literarische Szene, die systematisch und kompromisslos mit Traditionen und Konventionen bricht und stattdessen das Moderne, Innovative, Überraschende und Visionäre verfolgt.
Obschon bereits häufig für tot erklärt, lebt der Geist der Schweizer Avantgarde bis heute fort, indem sie sich kontinuierlich neu erfindet und entfaltet. Und doch wird das vielfältige alternative Schaffen ihrer Vertreterinnen und Vertreter hierzulande vielfach noch verkannt, steht die moderne Schweizer Literatur nach wie vor fälschlicherweise im Ruf, weitestgehend traditionell und von nüchternem Realismus geprägt zu sein.
Dem SLA ist es ein vordringliches Anliegen, diesen besonderen Sammlungsschwerpunkt weiterzuführen und dadurch nicht nur das kulturelle Erbe der Avantgarde angemessen pflegen zu können, sondern auch seine Stellung als Avantgarde-Archiv von nationaler wie internationaler Bedeutung zu unterstreichen. Dazu wurde in jüngerer Vergangenheit das Ziel formuliert, die Erschliessung entsprechender Bestände und Teilbestände, die grösstenteils noch unbearbeitet in den Magazinen der Nationalbibliothek lagerten, zu intensivieren, um sie so rasch wie möglich der Öffentlichkeit vermitteln zu können.
Um das SLA bei diesem Vorhaben zu unterstützen, leitete der Förderverein ab Herbst 2021 ein Fundraising in die Wege, das die Finanzierung einer zusätzlichen, befristeten Archivarinnen-Stelle verfolgte. Diese Bemühungen waren von Erfolg gekrönt: Dank grosszügigen Zuwendungen der Ernst Göhner Stiftung, der Christoph Geiser Stiftung und der Oertli-Stiftung konnte von Anfang 2023 bis Mitte 2024 ein dreiteiliges Erschliessungsprojekt durchgeführt werden, im Rahmen dessen die Bearbeitung der Archive dreier ikonischer Vertreter und Vertreterinnen der Schweizer Avantgarde des letzten halben Jahrhunderts, namentlich Felix Philipp Ingold, Peter K. Wehrli und Ilma Rakusa, massgeblich vorangetrieben wurden.
Die nachfolgenden Kurztexte umreissen jeden der drei Teile des Projekts zusätzlich.
Der Förderverein des Schweizerischen Literaturarchivs bedankt sich herzlich bei den obgenannten drei Stiftungen für ihre wertvollen Unterstützungen.
Benedikt Tremp
Felix Philipp Ingold
Das umfassende und vielseitige Archiv von Felix Philipp Ingold (*1942 in Basel) lagert bereits seit 2007 im Schweizerischen Literaturarchiv und wurde seither durch acht (!) Nachlieferungen ergänzt. Erste Zuwendungen der Ernst Göhner Stiftung und der Oertli-Stiftung ermöglichten es im ersten Halbjahr 2023 unserer Stipendiatin Isabelle Balmer, endlich wesentliche Teile davon zu erschliessen. Nunmehr präzise inventarisiert und damit für die Öffentlichkeit zugänglich sind zum einen grosse Partien von Ingolds lyrischem wie auch erzählerischem Werk aus über fünfzig Jahren Schaffenstätigkeit, zum anderen seine Korrespondenzen in ihrer (bis dato) Vollständigkeit.
Unter den in Ingolds Archiv erhaltenen Gedichtarbeiten, einige davon noch unveröffentlicht, finden sich lebendige handschriftliche Skizzen, Typoskript-Entwürfe sowie frühe Teil- und spätere Druckfassungen der Einzelgedichte. Besonders in seiner frühen Schaffensphase annotierte der Schriftsteller stark, strich, verschob Verse und ganze Strophen und scheute auch nicht davor zurück, einmal verworfene Zeilen in einem veränderten Kontext neu zusammenzusetzen.
Ingolds Korrespondenz aus rund einem halben Jahrhundert umfasst geschätzt zwanzigtausend Briefe, Postkarten und E-Mails. Sie gibt Einsicht in ein weites Netzwerk aus wichtigen Kulturinstitutionen, Universitäten, Verlagen sowie grosse Intellektuellen, Journalisten, Übersetzerinnen und Übersetzern wie Elfriede Czurda, Vilém Flusser, Eugen Gomringer, Philippe Jaccottet oder Roman Jakobson. Gleichzeitig reicht sie weit in die avantgardistischen Szenen Osteuropas, mit Namen wie Gennadi Aigi, Wladimir Kazakow, Ludvík Kundera und Elisabeth Netzkowa.
Der Basler Schriftsteller und Kulturhistoriker arbeitete intensiv mit verschiedenen Materialien aus Film, Fotografie und Kunst, die ihn beim Schreiben inspirierten. Inmitten der Dokumente zu seinem wichtigen Prosaband Haupts Werk. Das Leben (1984) beispielsweise finden sich Kopien aus Fotoserien des surrealistischen Malers René Magritte, eine Broschüre zu Filmen des Regisseurs Pierre Koralnik und Fragmente aus einem Filmbuch zu Markus Imhoofs Das Boot ist voll.
Reichhaltige Materialienkonvolute wie diese belegen Ingolds ausserordentliches interdisziplinäres Interesse. Sie zeichnen das Bild eines modernen Universalgelehrten, dessen Werk von den unterschiedlichsten Geistesströmungen auch jenseits des Literaturwissenschaftlichen und bis hin zur Mathematik und Physik geprägt wurde. Die nun endlich erschlossene, riesige Briefwechsel-Sammlung präsentieren den Basler zudem als Autor, der zu allen den Austausch suchte, die im gesamteuropäischen Literatur-, Kultur- und Kunstbetrieb des 20. und 21. Jahrhunderts Rang und Namen hatten.
https://www.helveticarchives.ch/detail.aspx?id=165075
https://ead.nb.admin.ch/html/ingold.html
Fotos © Simon Schmid (NB) und Yvonne Böhler
Peter K. Wehrli
Der Vorlass des Schriftstellers und Filmemachers Peter Konrad Wehrli (*1939 in Zürich), kurz PKW, befindet sich seit Ende 2019 im Schweizerischen Literaturarchiv. Erneut Isabelle Balmer konnte ihn in der zweiten Jahreshälfte 2023 vollständig erschliessen, und diesmal dank der grosszügigen Unterstützung der Christoph Geiser Stiftung.
Eine Besonderheit des Archivs des Zürchers ist die Dokumentation seines reichhaltigen filmischen Schaffens. Als Kulturredakteur für das Schweizer Fernsehen zeichnete Wehrli während mehr als vier Jahrzehnten für über vierhundert Produktionen verantwortlich, von denen sich Rohschnittmaterialien und Tonspuren sowie eine Vielzahl an Drehbüchern, Schnittplänen, Moderationstexten, Gesprächstranskriptionen und Recherchematerialien erhalten haben. In erster Linie bekannt wurde Wehrli für seine Porträts von (auch international) renommierten Schriftstellern, Künstlern und Musikerinnen, darunter Max Frisch, Paul Nizon, Robert Rauschenberg, Patti Smith und Andy Warhol.
Als Filmemacher und Kulturjournalist, aber auch als Autor, war Wehrli wiederholt an neuralgischen Punkten der Schweizer Literaturgeschichte präsent und leistete dabei wertvolle Vermittlungsarbeit. Besonders grosse Verdienste hatte er um das kulturelle Erbe von DADA. Neben Filmbeiträgen zu Walter Mehring und Marcel Janco trug er auch massgeblich zur Organisation des 50-Jahr-Jubiläums der Bewegung von 1966 bei. Seine Notizen- und Textsammlungen zu Alt-Dadaisten wie Hans Arp, Hugo Ball oder Man Ray belegen Wehrlis enge Verbundenheit mit der Szene zusätzlich.
Gute Kontakte pflegte Wehrli nicht nur zur avantgardistischen Kunst- und Literaturszene, sondern auch zur Familie Mann. Mit Frido Mann (Thomas’ «Lieblingsenkel») verbindet ihn eine alte Jugendfreundschaft und die Vision eines euro-brasilianischen Kulturzentrums in der «Casa Mann» in Paraty, mit vielen weiteren Mitgliedern der Familie tauschte er sich brieflich aus. 1964 reiste er mit Elisabeth Mann-Borgese nach Indien und verarbeitete diese Erlebnisse literarisch (u.a. Auf der Pistazienstrasse nach Südindien (1965).
Reichlich spannendes Material findet sich in Wehrlis Archiv auch zu seinem literarischen Hauptwerk, dem Katalog von Allem. Von der Sammlung täglicher schnappschussartiger Kurznotizen, an der der Zürcher mittlerweile schon seit geschlagenen fünfzig Jahren arbeitet und die ihm den Titel des «verwegensten Langzeitprojektkünstlers der Welt» (Tages-Anzeiger) eingebracht hat, sind mehrere wichtige wie auch exotische Ausgaben überliefert, u.a. die frühe Originalausgabe im Bundesordner (1975ff.), die Publikationen im Knaus- (1111 Nummern aus 31 Jahren, 1999) und Ammann Verlag (1697 Nummern aus 40 Jahren, 2008) sowie rund vierzig «Sonderkataloge» wie auch ein Exemplar der stark limitierten Luxusausgabe «Der pernambukanische Katalog» in portugiesischer Übersetzung.
Da Wehrlis Arbeit an seinem Katalog noch nicht abgeschlossen ist (und vermutlich auch nie ein selbstbestimmtes Ende kennen wird), verblieben dessen Urmanuskripte bis zuletzt in seinem Besitz. Sollten auch sie irgendwann den Weg ins Literaturarchiv finden, wären sie die Krönung dieses ohnedies spektakulären und wertvollen Archivs.
https://www.helveticarchives.ch/detail.aspx?id=1449415
https://ead.nb.admin.ch/html/pkw.html
Fotos © Simon Schmid (NB) und Peter Friedli
Ilma Rakusa
Der dritte Teil des «Avantgarde»-Projekts in der ersten Jahreshälfte 2024 wurde erneut ermöglicht durch eine freundliche Zuwendung der Ernst Göhner Stiftung. Dank ihr konnte Karl Clemens Kübler während sechs Monaten den umfangreichen Vorlass der Schriftstellerin und Übersetzerin Ilma Rakusa (*1946 im tschechoslowakischen Rimavská Sobota), der seit 2017 in Etappen ans Schweizerische Literaturarchiv gelangt ist, erschliessen.
Als literarische Übersetzerin aus dem Russischen, Serbokroatischen, Französischen und Ungarischen hat Rakusa bedeutende Autorinnen und Autoren wie Marina Zwetajewa, Marguerite Duras, Péter Nádas, Danilo Kiš und Anton Tschechow übertragen, als Literaturvermittlerin, Herausgeberin und Rezensentin für zahlreiche renommierte Verlage und Zeitungen gearbeitet. Ihr vielseitiges und sprachsensibles Œuvre umfasst u.a. Gedichte, Kurzromane, Dramolette, mehrere Poetik-Vorlesungen sowie Essays zu den Literaturen Ost- und Südosteuropas und wurde wiederholt mit wichtigen Preisen ausgezeichnet.
Unter den erschlossenen Werkmanuskripten fanden sich zahlreiche Entwürfe früher Gedichte aus den 1960er bis 1970er Jahren, davon ein Grossteil bislang noch unveröffentlicht. Von Werken wie Aufgerissene Blicke (2013) oder Impressum: Langsames Licht (2016) sind sowohl Typo- und Manuskripte als auch zugehörige Korrespondenz mit Verlagen, Lesern und Freundinnen überliefert. Das umfangreiche Dossier zu Rakusas grösstem nationalen wie internationalen Erfolg, ihrem autobiografisch gefärbten Prosaband Mehr Meer (2009), wartet zudem mit einer Dokumentation zur Verleihung des Schweizer Buchpreises auf.
Ähnlich viel und vielseitiges Material zeitigten auch Rakusas Übersetzungsarbeiten, darunter die zahlreichen Schriften der russischen Avantgarde-Autorin Marina Zwetajewa, mit deren Leben und Werk sie sich schon seit fünfzig Jahren auseinandersetzt. Werke wie Ein Abend nicht von dieser Welt (1999), Mutter und die Musik (2016) oder Phoenix (2016) sind mit reichlich Typoskripten, Korrespondenz und sonstigen Beilagen vertreten.
Anhand der Korrespondenz Rakusas zeigt sich eindrücklich ihr riesiges interkulturelles Netzwerk, das während über fünfzig Jahren gewachsen ist. Zu den Absendern und Absenderinnen zählen sowohl zahlreiche Grössen der Schweizer Literatur wie Jürg Laederach oder Gertrud Leutenegger als auch Kulturschaffende von internationalem Rang wie Alfred Brendel oder John Berger. Ein Sonderfall hier ist das sogenannte «IRRI»-Projekt: Zwischen 1986 und 1993 korrespondierte Rakusa (IR) mit der jugoslawischen Philosophin Rada Iveković (RI) mit dem Ziel, sich nicht nur über das Schreiben auszutauschen, sondern sich auch aktiv gegenseitig zu übersetzen – eine Art «Schreiben mit vier Händen».
Einerseits spannende Materialien aus Rakusas Kindheit (u.a. Schulhefte und Fotografien), andererseits viele Unterlagen zu Lesereisen (u.a. nach Russland oder in den Jemen) und Veranstaltungen runden den jüngst erschlossenen Teil ihres Vorlasses ab. Die Arbeit wird jedoch weitergehen: Denn pünktlich zum Ende des Stipendiums hat die Autorin dem Literaturarchiv weitere Dokumente nachgeliefert. Ausserdem fehlen noch Materialien und Bücher, die sie zum Zweck ihrer täglichen Schreibarbeiten nicht entbehren kann.
https://www.helveticarchives.ch/detail.aspx?id=1246622
https://ead.nb.admin.ch/html/rakusa.html
Fotos © Simon Schmid / Flurin Bertschinger (NB) und Giorgio von Arb